28. September 2022, von Dr. Hannes Swoboda (Präsident des Club of Rome – Austrian Chapter)
50 Jahre nach dem ersten Bericht des Club of Rome bzw. eigentlich an den Club of Rome (Die Grenzen des Wachstums), gibt es nun einen neuen Bericht unter dem Titel „Earth for All“. Dabei handelt es sich um eine umfangreiche Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen für eine nach vorne schauenden Klimapolitik. Aber die Studie betrachtet auch die Möglichkeiten des Scheiterns durch zögerliches Handeln.
In diesem Sinn zeigen die Autor*innen zwei Szenarien auf. Die eine Möglichkeit, für die wir „uns“ entscheiden können, ist wenig zu tun und das zu spät, um die katastrophale Entwicklung unseres Erdsystems aufzuhalten (too little, too late). Bei diesem Szenario müssen wir mit einer Erderwärmung von 2 Grad 2050 und dann von 2,4 Grad 25 Jahre später rechnen. Als Konsequenz müssen wir uns darauf einstellen, dass „rasch aufeinander folgende Extremereignisse zur Normalität werden“. Überdies wäre es eine Welt der anhaltenden Armut im Süden und der Ungleichheit im Norden.
Die Alternative dazu besteht darin, einen großen Sprung zu wagen (Giant Leap). Nun ist es nicht verwunderlich für welchen Weg sich die Autor*innen entscheiden. Aber sie machen es sich nicht zu einfach. Der Riesensprung, für den sie plädieren, setzt nämlich fünf Kehrtwendungen voraus. Und auch wenn sie einfach klingen, die Umsetzung dieser radikalen Veränderungen erfordert viele neue Gedanken und mutige Maßnahmen. Interessant und aus meiner Sicht sehr zu begrüßen ist die nachhaltige Betonung der Gerechtigkeit als Grundelement jeglicher, auf Erfolg hoffenden Klimapolitik.
Fünf zentrale Kehrtwendungen
Die erste Kehrtwendung, die die Studie anführt, ist die Forderung nach einer Beendigung der Armut. Das kann nur geschehen, wenn die Wirtschaft der ärmeren Länder weiter wächst. Einkommensschwache Länder sollten ein jährliches Wachstum von 5% erreichen, um die Armut schrittweise zurückzufahren. Es geht also nicht um einen globalen Wachstumsverzicht, sondern um eine sehr differenziertere Vorgangsweise.
Die zweite Kehrtwendung betrifft die Beseitigung der eklatanten Ungleichheit. So sollte erreicht werden, dass die reichsten 10% der Bevölkerung weniger als 40% des nationalen bzw. globalen Einkommens erhalten. Auch diesbezüglich geht die Studie nicht utopisch, sondern realistisch vor: es wird keine volle Gleichheit angestrebt, sondern eine – allerdings deutliche – Reduzierung der Ungleichheit.
Auch die dritte Kehrtwendung kann man unter dem Titel der Gerechtigkeit subsumieren. Die Studie verlangt eine Politik der Ermächtigung (empowerment) der Frauen. Nach wie vor haben Frauen einerseits einen geringeren CO2-Fußabdruck als die Männer, sind aber anderseits in vieler Hinsicht wirtschaftlich und sozial benachteiligt.
Als vierte Kehrtwendung führt die Studie ein, für die Menschen und die Ökosysteme gesundes, Nahrungsmittelsystem an. Es sollte zu keiner Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen kommen. Die bestehenden Böden sollten besser gepflegt und geschützt werden und überdies müsste vor allem die Lebensmittelverschwendung deutlich verringert werden. Und selbstverständlich muss es einen Übergang weg vom hohen Fleischkonsum zur vermehrten Ernährung auf Pflanzenbasis geben.
Die fünfte Kehrtwendung betrifft den, aus aktuellem Anlass besonders dringend gesehenen,
Übergang zu sauberen und nachhaltigen Energien. Dabei geht es vor allem um eine weitgehende und nachhaltig produzierte Elektrifizierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Man kann davon ausgehen, dass eine auf erneuerbaren Energien basierende Elektrifizierung von Transport, Heizen und dem Großteil der erzeugenden Industrie die CO2 Emissionen bis zu 75% reduzieren werden.
Grundrente
All diese Kehrtwendungen sind natürlich nicht so leicht herbeizuführen. 2 bis 4 % des globalen Sozialproduktes müssten bis 2050 aufgewendet werden. Und natürlich kann es dabei nicht ohne soziale Verwerfungen gehen. Es bedarf also sozialer Netze, um die Belastung sozial Schwacher zu minimieren. Die Autor*innen schlagen – nicht nur aus diesem Grund – auch die Einführung einer Grundrente vor. Alle, vor allem die Unternehmungen, die nationale bzw. globale Gemeingüter (fossile Brennstoffe, Land, Süßwasser, Meere, Luft, Daten etc.) benützen und vor allem verbrauchen, sollen dafür Abgaben zahlen. Und diese sind dann an die Bevölkerung umzuverteilen.
Diese Grunddividende (Universal Basis Dividend UBD) ist eine zentrale Idee der Studie. Und in der Tat ist sie überzeugender als das abstrakt diskutierte „Grundeinkommen“. Die Grunddividende kompensiert nämlich die einseitige Inanspruchnahme von der Allgemeinheit zustehenden Ressourcen. Sie trägt deutliche Elemente einer Gerechtigkeitspolitik. Sie ist Teil einer ressourcen-schonenden Politik und trägt zur Umverteilung bei. Generell hat sich in der Wissenschaft die Diskussion über die einseitige und übermäßige Beanspruchung von der Allgemeinheit zustehenden Gütern (Almende) verstärkt. Der Bericht „Earth for All“ liefert dazu einen besonders wertvollen Beitrag.
Eine Koalition zur globalen Trendwende
Der Riesensprung mit seinen fünf Kehrtwendungen und vor allem mit der Einführung der Grunddividende führt uns nicht ins Paradies. Aber wir würden in einer Welt leben, die sich doch grundsätzlich von der heutigen unterscheidet und die uns eine lebenswerte Zukunft bietet. So meinen die Autor*innen bezüglich dieser neuen Welt: „Extreme Armut existiert kaum noch und die Gefahr eines eskalierenden Klimawandels ist gemieden.“
Aber immer wieder unterstreichen die Autor*innen, „dass sich im kommenden Jahrzehnt die schnellste Transformation der Geschichte vollziehen muss.“ Und weiters: „Dazu müssen wir die breiteste Koalition aufbauen, die die Welt je gesehen hat.“
Mit dieser zu Recht erhobenen Forderung kommen wir zu einem besonders kritischen Punkt. Wie sollen wir in Zeiten verstärkter Fragmentierung und Konfrontation zu einer solchen breiten Koalition kommen? Russland führt Krieg gegen die Ukraine und droht dem Westen sogar mit atomaren Waffen. Die USA und China haben ein gespanntes Verhältnis und auch nach dem Ausscheiden von Trump ist es nicht besser geworden – im Gegenteil. Im Nahen Osten hat sich zwar das Verhältnis zwischen Israel und einigen arabischen Ländern verbessert, aber in Bezug auf den Iran gibt es nach wie vor große Spannungen. Im Jemen und in Äthiopien wird Krieg geführt. In mehreren Teilen Afrikas gibt es Spannungen, die auch zu neuen kriegerischen Auseinandersetzungen führen können.
Angesichts einer solchen globalen Situation wird es sehr schwierig sein, eine wirksame Koalition für eine nachhaltige Klimapolitik zu schmieden. Schon die Versprechungen der reichen Länder, die ärmeren bei ihrer Transformation zu unterstützen, sind kaum eingelöst worden. Die Unterstützung der Energietransformation weg von der Kohle für Südafrika ist ein Ausnahmefall. Vielleicht ergeben sich bei der COP 27 in Sharm El-Sheikh im November dieses Jahres einige neue Lichtblicke, aber die Chancen dafür stehen nicht gut. Das soll die Richtigkeit der Forderung nach einer globalen Koalition zur Erreichung des „Riesensprungs“ nicht in Frage stellen. Aber es braucht schon sehr viel Anstrengungen der Gutwilligen, um eine solche Koalition in absehbarer Zeit zu erreichen.
Überdies sind ein Teil der Gutwilligen, nämlich die EU-Länder, derzeit vor allem damit beschäftigt, ausreichend – fossile – Energie als Ersatz für die gestoppten Öl- und Gaslieferungen aus Russland zu erreichen. Und das sind nicht jene Energien, die wir für die nachhaltige Elektrifizierung benötigen. Es ist dabei gar nicht so leicht, diese kurzfristige Versorgung mit der langfristigen Transformation in Richtung Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen. Manche Lieferanten, die jetzt bereit sind, Europa entgegenzukommen, zum Beispiel durch die Lieferung von Flüssiggas (LNG), bestehen auf langfristige Lieferverträge. Das steht aber einer klimagerechten Transformation entgegen.
Richtigerweise führen die Autor*innen von „Earth for All“ einige Hindernisse und Störungen für die Umsetzung des „Riesensprungs“ nach vorne an. Aber es gibt leider noch viel mehr an Problemen und Widerständen, die wir bedenken müssen, wollen wir nicht allzu naiv an die Aufgabe der Transformation herangehen. All das soll uns nicht davon abhalten, den großen Sprung nach vorne zu wagen. Wir müssen nur auch die realistischen Ausgangsbedingungen dabei im Auge behalten.
Klimawandel und Migration
Dennoch und gerade auch deshalb müssen wir realistischerweise auch im Hinterkopf behalten, welche Folgen es haben kann, wenn dieser „Riesensprung“ nicht oder erst verzögert begonnen werden kann. Der Bericht an den Club of Rome analysiert ja einige dieser Folgen und erwähnt vor allem die wachsende Armut und Ungleichheit. In diesem Zusammenhang ist vor allem ein anderes kürzlich erschienenes Werk interessant und lesenswert.
Gaia Vince geht in ihrem Buch „Nomad Century“ davon aus, dass wir es kaum schaffen werden, die Pariser Klimaziele einzuhalten. Sie fürchtet eine Erwärmung der Welt eher in Richtung von 3-4 Grad. „Aber auch wenn wir eine Erwärmung von nur 1,5 Grad im Jahr 2030 erreichen, handelt es sich nicht um ein Picknick. Bei dieser Temperatur, wären ungefähr 15% der Weltbevölkerung alle fünf Jahre tödlichen Hitzewellen ausgesetzt, und das sind 1,3 Mrd. Menschen. Bei 2 Grad Erwärmung würde diese Zahl auf 3,3 Mrd. Menschen ansteigen.“ Die Folgen wären eine zunehmende Zahl von Missernten, geringerem Fischfang und rasch steigender Meeresspiegel.
Für Gaia Vince gibt es nur eine Möglichkeit drauf zu reagieren, nämlich durch verstärkte Wanderung in Richtung der kühleren und fruchtbareren Regionen: „Migration ist nicht das Problem, sondern die Lösung“. Sie weiß natürlich, dass der Widerstand der potenziellen Einwanderungsländer schon jetzt sehr groß ist. Deshalb fordert sie eine gut gesteuerte und weltweit koordinierte Migrationspolitik. Dabei hofft Gaia Vince, dass der Bedarf an Arbeitskräften in den nördlichen Städten dem Auswanderungsdruck aus den südlichen, nicht mehr bewohnbaren Regionen entgegenkommt. Aber in allen Fällen ist auch hier wieder eine globale Kooperation zur Bewältigung der Migrationsströme gefragt. Das wird allerdings in einer Welt, in der MigrantInnen auch als Waffe verwendet bzw. missbraucht werden, nicht leicht sein.
Die umfassenden Ansätze und konkreten Beispiele, die der neue Bericht an den Club of Rome bietet, sind wesentliche Beiträge zu einer realistischen Klimapolitik. Das betrifft auch Werke wie das von Gaia Vince über den Zusammenhang von Klimapolitik und Migration, und natürlich auch die Ausarbeitungen von Ernst Ulrich von Weizsäcker. Wenn letzterer für eine neue Aufklärung plädiert, dann unterstreicht auch er – in Zusammenarbeit mit Anders Wijkman – die Notwendigkeit, die Klimapolitik in einen umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen.
Es ist eben nicht so wie Corinne Sawers und Eric Lonegram in einem sonst lesenswerten Buch „Supercharge Me“ meinen: „Wir müssen niemanden von der Dringlichkeit überzeugen. Alle Wirtschaftssysteme der Welt versuchen ihre Emissionen zu verringern. Es gibt also einen Konsens darüber was zu tun ist. Wir brauchen keine komplette Umstrukturierung unseres individuellen Lebensstils. Wir brauchen kein Ende des Kapitalismus, keine Reduzierung der Einkommen und keine hohen Steuern, wir müssen mit zwei Aufgaben beginnen: wir müssen die Elektrizität nachhaltig erzeugen und alles mit Elektrizität betreiben.“ Ich meine hingegen, dass mehr zu tun ist – so wie es der Bericht „Earth for All“ beschreibt – und dazu noch einiges mehr. Leider ermutigt und ermuntert die gegenwärtige geopolitische Lage nicht zur Bildung einer globalen Koalition, die eine solche umfassende Transformation in Gang setzen würde. Aber die Aufgabe der klimagerechten Transformation ist zu wichtig, um sie zu vernachlässigen.
Referenz
Sandrine Dixson-Decleve, Owen Gaffney, Jayati Ghosh, Jorgen Randers, Johan Rockström, Per Espen Stoknes: EARTH4ALL, Ein Survivalguide für unseren Planeten.