Teil 2 unseres Nachberichts zur 🔗Veranstaltung zum Thema Armutskehrtwende vom 2. April 2024: Es besteht ein dringender Handlungsbedarf bei nachhaltigen Lösungen der Verschuldungsthematik und der ökonomisch-ökologisch-sozialen Transition in den einkommensschwachen Ländern. Diese komplexen Themenstellungen wurden in zwei Diskussionsrunden mit verschiedenen Expert:innen beleuchtet.
🔗Hier geht es zum Teil 1 des Nachberichts zur Begrüßung und Keynote der Veranstaltung.
Das erste Panel,
wurde von Birgit Niessner moderiert. In dieser ersten Expert:innen-Runde widmete man sich besonders dem Entschuldungsthema. Wie muss das internationale Finanzsystem transformiert werden, damit einkommensschwache Länder die doppelte Herausforderung von Armut und Klimawandel bewältigen können?
Zum Thema Schuldenfalle in einkommensschwachen Ländern ist Christian Just vom Internationalen Währungsfonds (International Monetary Funds – IMF) virtuell aus Washington zugeschaltet. Er sieht Schuldenstreichungen zwar als eine “mögliche Maßnahme”, allerdings seien die Schuldenstände nach wenigen Jahren wieder da, wo sie vorher waren. Wolfgang Bergthaler, Assistant General Counsel, IMF, ist ebenfalls in Washington tätig und stimmt Just zu und betont: “Für Staatsschulden gibt es kein Insolvenzrecht”. Es brauche daher in den jeweiligen Ländern letztlich eine solide Makroökonomiepolitik.
Gunther Beger, Managing Director der UNIDO diskutiert vor Ort im Panel und beschreibt die Situation als “verheerend”, in der “3,3 Milliarden Menschen in Ländern leben, in denen mehr Geld für Schuldentilgung ausgegeben wird, als für Bildung und Gesundheit zusammen.” Für diese Regionen entstand laut Beger ein “Teufelskreis”, durch den viel weniger Geld für Bildung, Gesundheit, Investitionen in Infrastruktur und Industrialisierungsmaßnahmen vorhanden ist.
Martina Neuwirth, Senior Expert für Entwicklungsfinanzierung beim Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC) betont: “Die Länder des globalen Südens verschulden sich immer mehr – und das geht natürlich auch auf die globalen Ungleichheiten zurück, die strukturell oft noch auf die Kolonialzeit zurückzuführen sind.” Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, müsse man endlich globale Mechanismen, die auch private Gläubiger stärker mit einbeziehen, wie ein Insolvenzverfahren für Staaten, etablieren. Es müsse aber auch fairere internationale Regeln im Steuerbereich geben, da insbesondere die ärmsten Länder immer noch zu wenige Einnahmen lukrieren können – die dann auch noch zu einem großen Teil zur Schuldenrückzahlung, statt zur Armutsbekämpfung, verwendet würden.
Irene Giner-Reichl, ehemalige Botschafterin für Österreich, und Expertin im Bereich der Entwicklungspolitik wirft die Frage auf, was genau die Zielsetzung des internationalen Finanzsystems sei – insbesondere in Bezug auf die Entschuldung, aber auch in Hinblick auf den Earth4All Report und die Klimaziele. Denn von den erfreulicherweise stark gestiegenen Investitionen in erneuerbare Energien und Energieeffizienz gingen global rund 15 Prozent in emerging and developing countries, wobei dabei China herausgerechnet wurde. Der größte Anteil dieser 15 Prozent gehe wiederum an Indien und Brasilien. Daraus wird schnell klar: Große Teile der Welt, insbesondere die ärmsten, erreichen diese Investitionen nicht. Möchten wir die Klimaziele erreichen, dann sei es aber unabdingbar, dass mehr emerging and developing economies ihre Infrastruktur im Erneuerbaren Energiebereich aufbauen. Kurzum: Die Investitionen müssen wesentlich erhöht werden und idealerweise um das Sechsfache wachsen. Giner-Reichl betont außerdem, dass sich Diskriminierungen und Benachteiligungen potenzieren. Frauen spielen eine enorm wichtige Rolle in der Erreichung der Klimaziele, denn sie sind weiterhin überproportional von Energiearmut betroffen. Doch in vielen armen – und auch nicht so armen – Gebieten der Welt ist es ihnen weiterhin kaum möglich oder wesentlich erschwert, an Kredite zu kommen.
Das zweite Panel,
moderiert von Gunter Schall stellt die Frage, wie globale Handelsabkommen transformiert werden müssen, um einkommensschwache Länder zu unterstützen – insbesondere in Bezug auf den grünen Technologieaustausch.
Brauchen wir noch eine Entwicklungszusammenarbeit, oder kommen wir auch ohne sie aus? Welche Chancen bringt ein Technologietransfer insbesondere im Bereich green technologies? Die Zeit läuft. Ohne baldige strategische Entscheidungen wird sich die Situation in vielen Ländern mit den Folgen der Klimakrise verschlechtern.
Alexandra Strickner vom Kompetenzzentrum Alltagsökonomie schlägt vor, dass Österreich die Inhalte und die Ausrichtung der europäischen Handelspolitik stärker beeinflusst, mit dem Ziel soziale und ökologische Anliegen ins Zentrum zu rücken. So versucht die EU gegenwärtig über Handelsabkommen Rahmenbedingungen zu schaffen, mit denen sie leichter Zugang zu Rohstoffen erhält und gleichzeitig den Aufbau von EU- Industrien z.B. im Bereich der Energiewende über die Möglichkeit von Schutzmaßnahmen gegen billige Importe abzusichern. Der Erhalt und die Ausweitung von politischen Handlungsspielräumen der Länder im Globalen Süden, wird dagegen von der EU oftmals bekämpft. So versucht die EU z.B. Lokalisierungsvorgaben bei der öffentlichen Auftragsvergabe (Buy Local Politiken) über Vereinbarungen in Handelsabkommen einzuschränken. Aus der Sicht dieser Länder sind das aber wichtige Maßnahmen, um den Aufbau einer lokalen Industrie bzw. die Sicherung einer lokalen Wirtschaft oder Technologietransfer zu ermöglichen.
Erwin Künzi, Austrian Development Agency (ADA), führt aus, dass Innovationen von Unternehmen, die mit der Förderung durch öffentliche Gelder entstanden sind, nicht als intellektuelles Eigentum komplett zu schützen seien, sondern dass die öffentliche Hand, die die Innovation ermöglicht, diese Innovation nutzen und verbreiten können soll.
Holger Hestermeyer von der Diplomatischen Akademie argumentiert für ein vorsichtiges Umdenken. Einerseits zeige sich immer deutlicher, dass das globale System des Schutzes geistigen Eigentums fundamental reformbedürftig sei. Andererseits habe sich darauf basierend eine „Wissensindustrie“ entwickelt, die z.B. auch das Teilen von nicht veröffentlichtem zusätzlichem Wissen an Patentlizenzen knüpfe. Im Rahmen einer globalen Reform könne man diese Infrastruktur bewahren, indem man beispielsweise die Laufzeit von Patenten verringere. Er plädiert darüber hinaus für eine Stärkung des regelbasierten Handels und einer Reform der Regeln und gegen eine Aufgabe des Handelssystems als Lösung globaler Probleme.
Auch Werner Raza von der ÖFSE ist sich sicher: “Der Handel allein wird’s nicht richten.” Denn umfassender Handel kann unter bestimmten Voraussetzungen Vorteile bringen, aber er sei nur ein Element in einem umfassenderen Prozess wirtschaftlicher Entwicklung, der von zahlreichen Voraussetzungen und Faktoren abhängt. Im Kontext nachholender wirtschaftlicher Entwicklung ist daher auch der Einsatz von Schutzzöllen und ähnlichen Maßnahmen zulässig. Denn für sogenannte infant industries könnten, zumindest in bestimmten Ländern, Schutzzölle und andere industriepolitische Maßnahmen wichtige Elemente einer zukunftsgerichteten Wirtschaftspolitik sein. Dies müsse aber von einem umfassenden Nord-Süd-Technologiertransfer begleitet werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den einkommensschwachen Ländern insbesondere im globalen Süden ein dringender Handlungsbedarf besteht, einerseits in Bezug auf die nachhaltige Lösung der Verschuldungsthematik, die nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine klimabezogene, ökologische und soziale Transition berücksichtigen muss. Ebenso besteht Einigkeit, dass einkommensschwache Länder umfassend mit unterschiedlichen Maßnahmen unterstützt und geschützt werden müssen – in Bezug auf Handelsabkommen, der Nutzung von Innovationen im Zusammenhang mit einem unterstützen Technologietransfer. Darüber müsse öffentlich deutlich stärker diskutiert werden.
Alle Informationen zur Armutskehrtwende finden Sie 🔗hier.