Ein Beitrag von Rudolf Scholten

800 Milliarden Euro sollen entsprechend des Europäischen Aufrüstungsplans “ReArm Europe”, der nach einiger Kritik an diesem Titel in „Bereitschaft 2030“ umbenannt wurde, für “zusätzliche Verteidigungskapazitäten” ausgegeben werden. Rudolf Scholten, Mitglied im Vorstand des Austrian Chapters des Club of Rome, fordert dazu auf mehr Geld so zu investieren, dass sehr viele Menschen spüren können, dass man ihre Probleme ernst nimmt und ihre Lebenschancen dadurch konkret verbessert werden“.  Hier sein Text:

In Kombination mit Angst, sei es ein Angriff der Russen oder vor fünf Jahren die bis dahin unbekannte Pandemie Covid, lösen diese Summen – die nicht zu Unrecht Unsummen genannt werden – keine konkrete Debatte über Angemessenheit aus. Der Angstformel „die Russen könnten kommen“ steht die Entlastungsformel „koste es was es wolle“ entgegen – Erleichterung und Ende der Debatte.

Tatsächlich stehen wir vor zwei Phänomenen, die die politischen Systeme Europas seit dem 2. Weltkrieg nicht üben mussten und daher auch keine Routinen entwickeln konnte – eine amerikanische Außenpolitik, die den Tabubruch zum System erhebt und zugleich eine innenpolitische Situation in den meisten europäischen Ländern, wo politische Kräfte mit Wahlerfolgen ausgestattet werden und ergo dessen Regierungsanspruch erheben, die die tragenden Säulen einer liberalen, freien Demokratie attackieren. Zugleich müssen wir beobachten, dass wesentliche Selbstverständlichkeiten unserer politischen Systeme als disponierbar oder sogar „überflüssig“ beschrieben werden und daher jede Verlässlichkeit verlieren. Die Menschen, die solche Parteien wählen, nehmen das in Kauf oder sehen es sogar als willkommene Attacke an ein System, das in ihren Augen das nicht liefern konnte, was es versprach. 

Wenn es nicht gelingt, diese Tendenz umzukehren, verlieren wir den Konsens für eine demokratische, liberale Gesellschaft, weil der Anspruch „das Recht muss der Politik folgen“ alle Sicherheiten hinfällig macht. Haben die Menschen recht, die von unserem System enttäuscht, sind? Ja das haben sie – das gilt für Europa als auch die USA. Seit vielen Jahren sind periodisch auftauchende Krisen die Entschuldigung für keine substanzielle Verbesserung der Lebenssituation einer großen Mehrheit in unseren Gesellschaften. Die Erwartungen an eine deutlich spürbare Emanzipation der Lebensbedingungen sehr vieler Menschen gegenüber jenen der sogenannten Eliten ist ausgeblieben, das gilt umso mehr für die Hoffnung auf gute Lebensbedingungen für die jeweils nächste Generation. Rasante technische Entwicklungen erzeugen die Illusion von Fortschritt.

Diese Aushöhlung des gesellschaftlichen Grundkonsens stellt eine immense Gefahr für den inneren Frieden der meisten europäischen Länder dar. Jede Sicherheitsanalyse muss zum Ergebnis kommen, dass die Gefahr, die von diesem Verlust an Stabilität ausgeht, jeder Gefahr von außen zumindest gleichrangig ist, wenn nicht sogar deutlich überlegen. 

Wenn wir erkennen, dass wesentliche finanzielle Mittel notwendig sind, um unsere Gesellschaften zu schützen, gegen äußere oder innere Gefahren, dann müsste man so investieren, dass sehr viele Menschen spüren können, dass sich ihre Erwartungen von negativ zu positiv drehen, dass man ihre Probleme ernst nimmt, nicht nur durch soziale Hilfen, sondern durch konkrete bessere Lebenschancen. 

Die „unfassbar großen“ Beträge , die jetzt für die Rüstung ausgegeben werden sollen,  richten sich an die Außenbedrohung und systemische Infrastruktur, die immense Gefahr, dass unsere demokratischen Systeme von innen ihre Stabilität verlieren, bleibt unbeantwortet. 

Das ist nicht nur aus sozialen Gesichtspunkten, sondern auch aus Sicht der Gefahren- und Risikoabwehr falsch und einseitig.

Die Unsummen sollte man dort investieren, wo gelebt wird, dort, wo wir wieder zu EINER Gesellschaft werden können, die es erlaubt, dass demokratische Länder demokratisch bleiben.

Fotocredit: OeNB