1. Juni 2023, von Dr. Hannes Swoboda (Präsident des Club of Rome – Austrian Chapter)
Die diesjährigen Europäischen Toleranzgespräche in Fresach standen unter dem Motto „Wachstum am Ende – was jetzt?”. Als Präsident des Kuratoriums dieser Gespräche hielt Hannes Swoboda eine Eröffnungsrede.
Wir leben in der westlichen/nördlichen Welt – zum Großteil und in unterschiedlichem Ausmaß – in einer Wohlstandsgesellschaft. Wir sprechen auch von einer Leistungsgesellschaft. Das Wirtschaftswachstum hat über Jahrhunderte zu diesem Wohlstand geführt.
Ausbeutung von Menschen als Quelle des Wachstums
Aber wer hat diese Leistung erbracht und wie wurde sie erbracht? In einem bahnbrechenden Werk mit dem Titel „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ ist Howard E. French dieser Frage mit wissenschaftlicher Akribie auf den Grund gegangen und kommt zu folgendem Schluss:
„Dieser Zuwachs an Wohlstand und Macht beruht nicht auf irgendwelchen angeborenen oder dauerhaften europäischen Eigenschaften, die zu einer Überlegenheit führten. In einem noch immer nicht anerkannten Maß baute er auf dem Fundament der ökonomischen und politischen Beziehungen Europas zu Afrika auf, bei denen natürlich der massive, jahrhundertelange transatlantische Handel mit Sklaven im Mittelpunkt stand, die zu Millionen eingesetzt wurden, um Zucker, Baumwolle und andere Marktfrüchte auf den Plantagen der Neuen Welt anzubauen.“
Die Einkommen aus diesen Aktivitäten haben die Industrialisierung der westlichen Welt ermöglicht. Und das betraf und betrifft nicht nur die unmittelbaren Nutznießer wie Portugal, Spanien, England, Niederlande, USA etc. sondern alle, die von dem wirtschaftlichen Aufschwung der Kolonialländer profitierten.
All das müssen wir bedenken, wenn wir das Verhältnis der nördlichen/westlichen Staaten zu den Staaten des Globalen Südens neu gestalten wollen. Die koloniale Geschichte wirkt bis heute nach bzw. kann jederzeit von Politikern des Globalen Südens „hervorgeholt“ werden, wenn der Westen/Norden Forderungen an Staaten des Globalen Südens stellt. Dennoch wird eine wirksame Klimapolitik nur durch ein neues konstruktives Verhältnis zwischen den beiden globalen Regionen bzw. durch eine enge Zusammenarbeit auf Augenhöhe zustande kommen.
Ausbeutung der natürlichen Ressourcen
Aber nicht nur die Menschen wurden ausgebeutet, sondern auch die Natur. Und so kamen wir schrittweise ins Anthropozän, einem Zeitalter, in dem wir durch unsere Eingriffe in die Natur diese selbst massiv veränderten und damit unsere eigenen Lebensgrundlagen gefährdeten. Viele Wissenschaftler fordern daher ein Umdenken, nicht zuletzt auch im Verhältnis zu den anderen Lebewesen auf dieser Erde. Der Mensch sollte sich nicht allzu sehr auf sein Alleinstellungsmerkmal als denkendes Wesen berufen. Vielleicht denkt er ohnedies zu wenig – vor allem an die Konsequenzen seines Handels. Insbesondere muss der Mensch die Umwelt zu einer Mitwelt werden lassen, also sich als integralen Teil der Natur verstehen.
Energie als Schlüssel der alten und neuen Entwicklung
Das Zeitalter des Anthropozäns ist vor allem durch die massive Verwendung der fossilen Rohstoffe zur Energiegewinnung gekennzeichnet. Diese Form der Energieerzeugung, die vor allem in der nördlichen Erdhälfte stattfindet, ist ja für die Erderwärmung bzw. den Klimawandel mit seinen immer weniger kontrollierbaren Folgewirkungen verantwortlich.
Die Energietransformation ist daher ein wesentliches Element der notwendigen Gegensteuerung, um die Klimakatastrophe zu vermeiden oder zumindest die schädlichen Konsequenzen der Erderwärmung zu minimieren. Dabei handelt es sich nicht um eine Dekarbonisierung die wir erreichen müssen, sondern um eine Defossilisierung. Wir brauchen Kohlenwasserstoffe als Energieträger aber wir müssen die Verbrennung der fossilen Rohstoffe, also von Öl, Gas und Kohle massiv zurückfahren.
Externalisieren der Kosten „unserer“ Energiewende
Noch immer denken wir zu sehr an die westliche Welt, wenn wir von der notwendigen Energiewende sprechen. So auch wenn wir die Entwicklung in Richtung der „nachhaltigen“ Elektrifizierung und insbesondere der Elektromobilität steuern und es als selbstverständlich ansehen, dass wir die dafür notwendigen Rohstoffe aus dem Globalen Süden beziehen – oft unter katastrophaler Vernachlässigung der ökologischen und sozialen Bedingungen.
Nach wie vor „externalisieren“ wir die Kosten für die Entwicklung unserer – nun „nachhaltigen“ – Wohlstandsvermehrung, in dem wir – und das trifft nun allerdings auch auf die chinesischen und anderen Staaten zu – verschiedene Länder des Globalen Südens mit den Folgewirkungen der Ausbeutung, der für unser Wohlergehen wichtigen Rohstoffe, allein lassen.
Hinzu kommt, dass wir nicht genug seltene Erden etc. für die Elektrifizierung aus der Erde schöpfen können, um auf diese Weise die Elektrifizierung mittels Sonne und Wind zu erzielen. Notwendig ist die Entwicklung einer Strategie, mittels der Kohlenwasserstoffe in Form von Methan, Methanol etc. in jenen Ländern erzeugt werden, wo die Sonne diese Erzeugung in ausreichendem Maße ermöglicht.
Die Energietransformation muss also in enger Kooperation mit den Ländern des Globalen Südens erfolgen. Das kann aber nur gelingen, wenn es nicht in kolonialer bzw. neokolonialer Form geschieht, sondern klar zum Nutzen beider Seiten organisiert wird. Ein decoupling wie es vielfach generell für die Wirtschaft der westlichen/nördlichen Wirtschaft gefordert wird, ist dabei unmöglich bzw. wäre extrem teuer. Die Energieversorgung muss auch weiterhin über eine globale Vernetzung passieren, allerdings über eine breit gestreute Versorgung, die die Risiken von Versorgungsengpässen bzw. -unterbrechungen minimiert. Die Energiewende im Norden – weg von fossilen Energieträgern – muss in enger und gleichberechtigter Kooperation mit dem Globalen Süden erfolgen.
Wer muss die Transformation steuern?
Da kommen wir nun zur Frage, wer soll eigentlich diese umfassende Transformation in Gang setzen? Sicher brauchen wir den Staat und in unserem Falle die Europäische Union. Und bei aller berechtigten Kritik hat die Union in den letzten Jahren besondere Anstrengungen unternommen, um ein umfangreiches Gesetzespaket, vor allem im Rahmen des „Green Deals“ zu beschließen. Schon kommt allerdings aus verschiedenen Mitgliedstaaten der Ruf nach einem Stopp fortschrittlicher Gesetze. Die Industrie brauche Zeit, um sich an die neuen Regelungen anzupassen, als ob uns der Klimawandel diese Zeit lässt. Wenn es Anpassungen des Green Deals bedarf, dann in Richtung einer engeren Kooperation mit Ländern des Globalen Südens, aus der heraus sich Vorteile für beide Seiten entwickeln würden.
Aber es geht nicht nur um die europäischen bzw. staatlichen Regelungen. Es geht darum, dass wir ein Wirtschaftssystem entwickeln, das den ökologischen und sozialen Anforderungen gleichzeitig gerecht wird. Der Kapitalismus in seiner jetzigen Form (!) ist Mitverursacher der gefährlichen Entwicklung. Und daher braucht es fundamentale Änderungen.
Dabei müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir alle Teil dieses Kapitalismus sind. So meinte kürzlich die Schriftstellerin Anne Weber anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises: „Der Kapitalismus ist keine böse Machenschaft von Millionären und Milliardären, die sich auf unserem Rücken die Taschen füllen. Denn wir sind es selbst, die sich auf fremdem Rücken die Bäuche und die Konten füllen.” Und sie fügte hinzu: „…sogar, wenn du schlecht dabei weggekommen sein solltest, bist du immer noch besser dran als die Armen woanders, mit denen du, weil die Verhältnisse global sind und die Menschheit erst recht, dich wohl oder übel zu vergleichen hast.“
Unabhängig davon, dass wir alle Teil der falschen Entwicklung sind, ist aber ebenso klar, dass die reicheren Schichten einen unverhältnismäßig höheren ökologischen Fußabdruck haben als die ärmeren.
Suche nach einem neuen Wirtschaftssystem
Und damit sind wir wieder bei der Frage der krassen Ungleichheit – bei uns im Westen aber noch mehr global gesehen. Wir haben immer wieder geglaubt bzw. glauben wollen, dass das Wirtschaftswachstum die Ungleichheit automatisch verringert. In gewissem Maß hat das Wirtschaftswachstum tatsächlich einen Beitrag zur Verringerung der Ungleichheit geleistet.
Auf der nationalen Ebene hat das Wirtschaftswachstum die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem die Gewerkschaften, „ermächtigt”, eine Erhöhung der Löhne und Pensionen durchzusetzen. Aber diese Umverteilung nach unten war nie nachhaltig.
Und weltweit hat die Teilnahme am globalen Arbeitsmarkt die Einkommen ärmerer Schichten aus dem Globalen Süden erhöht und eine nicht unbeträchtliche Zahl der Bevölkerung aus der Armutsfalle befreit. Allerdings ging dies zum Teil auf Kosten der unteren Einkommensgruppen in den reicheren Ländern.
Dabei sollten wir uns nicht so sehr in die Debatte verirren, ob wir Wachstum brauchen oder nicht! Ich halte die “Degrowth” Debatte oftmals irreführend! Es ist immer eine Frage, was wachsen soll bzw. für wen das Einkommen zunehmen soll.
Wir können die Armut nicht allein durch Umverteilung bekämpfen. Es geht vielmehr um gezieltes Wachstum. Unternehmer:innen brauchen Anreize, um in diese Richtung zu investieren. Aufgabe der öffentlichen Hand – auf staatlicher und europäischer Ebene – ist es, solche Rahmenbedingungen zu setzen, die Unternehmungen aber auch Konsument:innen dazu bewegen, ihr Investitions- und Konsumverhalten in Richtung Nachhaltigkeit zu verändern.
Jetzt geht es angesichts der umfassenden und notwendigen Veränderungen in unserem Investitions- und Konsumverhalten allerdings darum, nicht noch mehr die Ärmeren zu belasten. Denn das kann nur zu Widerstand und Klimaleugnung führen. Es bedarf ohnedies besonderer Anstrengungen diese zum Teil stark mit Ressentiment geladenen Widerstände, die sich unter anderem in Wutbürgerparteien etc. manifestieren, zu überwinden.
Wir wissen inzwischen, was nicht gut funktioniert – vor allem im Hinblick auf die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen und auch in Bezug auf den Klimawandel. Aber wir müssen uns auf die Suche nach einem Wirtschaftssystem machen, dass die Investitionen und die Arbeitswelt in eine nachhaltige Richtung leitet. Vor allem brauchen wir ein globales Wirtschaftssystem, das den Ärmsten der armen Länder hilft, aber nicht den Armen der reichen Länder schadet. Nur dann werden wir den Widerstand sozial Benachteiligter im Norden überwinden.
Eine Erde für Alle – Ungleichheiten abbauen
Es ist in diesem Sinn nicht zufällig, dass von den fünf wesentlichen „Kehrtwenden“, die der jüngste Bericht an den Club of Rome „Erde für Alle“ einfordert, sich die beiden ersten auf den Abbau der Ungleichheit und der Armut beziehen! Klimapolitik und die Bekämpfung von Ungleichheit und Armut müssen Hand in Hand gehen.
Die dritte Kehrtwende bezieht sich auf die Ermächtigung der Frauen! Da sind wir bei der Gender-Frage und bei einer Neuorientierung im sozialen Zusammenleben! Ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern auf der Basis der Gleichberechtigung ist nur ein – wenngleich entscheidendes – Element der neuen kulturellen Verhältnisse der Menschen untereinander! Es bedarf also einer „neuen Aufklärung“, die viel umfassender ausfallen muss als die letzte.
Auch das macht vielen Menschen – vor allem Männern – Angst und erzeugt Widerstand! Politik muss sich also in gleichem Maß um die Transformation zu gleichberechtigten und nachhaltigen Lebensweisen kümmern, wie um die Überwindung von Widerständen gegen diese Transformation! Das ist auch der große Irrtum mancher Klimaaktivist:innen, die meinen sie müssten nur die Politiker:innen adressieren. Die Aufgabe ist viel umfassender und komplizierter.
Die neue Aufklärung
Die neue Aufklärung muss von klaren Grundsätzen ausgehen, aber dabei einen schwierigen Dialogprozess in Gang setzen. Toleranz und Akzeptanz darf nicht mit Gleichgültigkeit gegenüber der Verletzung fundamentaler Rechte der jetzigen und der zukünftigen Generationen verwechselt werden. Dabei hilft es auch nicht, die vergangenen Generationen schuldig zu sprechen.
Toleranz heißt vor allem, aus den Folgen vergangener Handlungen zu lernen und eine neue Zukunft zu bauen. Am schwierigsten ist es dabei, jene mitzunehmen, die sich schon jetzt benachteiligt fühlen bzw. es objektiv sind und fürchten, von den bevorstehenden Änderungen noch mehr Nachteile zu erfahren. Da bedarf es viel Überzeugungsarbeit.
Die kann nur gelingen, wenn wir die notwendigen Diskussionen nicht nur in der „Blase“ der Überzeugten führen. Wir müssen vielmehr Bilder und Ordnungsmodelle entwickeln, die Menschen überzeugen, sich aus der gegenwärtigen Ordnung bzw. Unordnung in eine neue, unsichere zu wagen. Leider sind wir noch nicht so weit, dass wir solche Bilder mit Überzeugung anbieten können. Wir müssen uns dazu schrittweise vortasten und so viele wie möglich mitnehmen.