29. Juni 2022, von Dr. Michael Losch (Vorstandsmitglied des Club of Rome – Austrian Chapter)

Eröffnungsrede und Kommentare zur Veranstaltung “Energiewende für alle” am 15. Juni 2022.


Sowohl der Club of Rome als auch der Weltenergierat bringen traditionell Wissenschaftler, Intellektuelle und Führungskräfte aus der Wirtschaft zusammen, um datenbasierte Prognosen und Szenarien über die Zukunft unserer Ressourcen und unseres Energieverbrauchs zu entwickeln.  Beide haben das Ziel, nachhaltige Lösungen zu finden und einen Beitrag zur öffentlichen Debatte zu leisten. Der Club of Rome begann auf internationaler Ebene mit dem Bericht “Die Grenzen des Wachstums” aus dem Jahr 1972. Der Weltenergierat wurde bereits 1923 in London als Nichtregierungsorganisation gegründet, die sich den Herausforderungen des Energiesystems und der Energiewende widmet und eine sichere und nachhaltige Energieversorgung anstrebt.

Dieses Jahr feiern wir den 50. Jahrestag von “Die Grenzen des Wachstums”. Die österreichische Sektion hat bereits im Mai 2022 eine Jubiläumskonferenz abgehalten mit der Absicht, einen genaueren Blick auf die Energieherausforderungen in diesen dramatischen Zeiten zu werfen, in denen die Klimaherausforderung mit dem Krieg in der Ukraine und den daraus resultierenden Herausforderungen für die Energieversorgung zusammenfällt. Es ist eine Ehre, hier an der TU-Wien sowohl die Gemeinschaften des Club of Rome als auch des Weltenergierates in Österreich zusammenzubringen.

Die übergeordnete Herausforderung ist von der Politik erkannt worden: Wir haben das Pariser Abkommen und den europäischen Green Deal mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050, oder anders gesagt, eine “Netto-Null-Wirtschaft”, wie es die IEA in ihrem letztjährigen bahnbrechenden Bericht formuliert hat. Die Ressourcenfrage hat sich ausgeweitet, es geht nicht nur um die Substitution fossiler Brennstoffe durch ausreichend erneuerbare Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und andere, sondern auch um Landnutzung, Metalle und seltene Erden, die für die Produktion dieses Übergangs benötigt werden.

Die Veranstaltung fokussierten sich im Wesentlichen auf die Frage, wie viel Energie wir für diesen Übergang zum Netto-Nullpunkt benötigen. Wie viel in Form von grünem Strom und wie viel in Form von grünen Molekülen? Dies hat Auswirkungen auf die Speicherung und den Transport und auch auf die Fähigkeit, Prozessemissionen in der Schwerindustrie zu neutralisieren. Wasserstoff scheint eine wichtige Lösung zu sein, und die österreichische Regierung hat gerade die lang erwartete Wasserstoffstrategie für Juni 2022 vorgelegt. Ich schlage vor, diese Fragen auf drei Ebenen zu betrachten: auf der nationalen österreichischen Ebene, auf der EU-Ebene und im internationalen Kontext außerhalb Europas.

Die österreichische Herausforderung

75 % des Stromverbrauchs sind erneuerbar, aber nur 34 % des Gesamtenergieverbrauchs. Mit anderen Worten: 75 % der Elektronen sind bereits erneuerbar, aber 99 % der Moleküle (Gas, Öl) sind noch fossil. Das im Jahr 2021 verabschiedete Erneuerbaren Ausbau Gesetz (EAG) bildet den Rahmen für die Erreichung von 100% erneuerbarem Strom bis 2030. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist, wie viel Strom im Jahr 2030 benötigt wird. Für die EAG wurde davon ausgegangen, dass der derzeitige Stromverbrauch von 72 TWh nach den verschiedenen Szenarien von UBA, TU-Wien und ÖE auf 78-88 TWh im Jahr 2030 ansteigen wird. Da die derzeitige Erzeugung aus erneuerbaren Energien bei ca. 54 TWh liegt, erscheinen die in der EAG vorgesehenen zusätzlichen 27 TWh angemessen.

Der zusätzliche Strombedarf für E-Mobilität, Wärmepumpen und auch ein Teil des zusätzlichen Stroms für die heimische Wasserstofferzeugung (1 GW Elektrolyseure mit einer Leistung von 4-5 TWh bis 2030 gemäß der österreichischen Wasserstoffstrategie) wurde in den oben genannten Szenarien zwar weitgehend berücksichtigt, die vollständige Dekarbonisierung der energieintensiven Industrien war aber noch nicht Teil der bereits 2019 diskutierten Szenarien.

In Summe (Industrie, gasbefeuerte KWK-Anlagen, Gebäude, Verkehr) liegt der derzeitige Gasverbrauch bei ca. 100 TWh und ist damit größer als der Stromverbrauch von 72 TWh.

Der österreichische Industriesektor ist nicht nur der größte Gasverbraucher, sondern auch für ca. 34% der gesamten nationalen CO2-Emissionen verantwortlich. 60 % dieser Emissionen sind Prozessemissionen, die nur durch neue Produktionstechnologien vermieden werden können, entweder durch Umstellung auf Elektrifizierung (z. B. Stahlschrottverhüttung mit Lichtbogenofen) oder durch den Einsatz von Wasserstoff (z. B. Primärstahlreduktion mit Wasserstoff) und Kohlenstoffabscheidung und -nutzung (CCU) in der Zement- und Chemieindustrie. Folglich werden für die Dekarbonisierung der Industrie entweder weitere 30 TWh Strom oder eine beträchtliche Menge an grünem Wasserstoff benötigt, die weit über die 4 TWh hinausgehen, die nur als Ersatz für den derzeit in der Industrie verwendeten grauen Wasserstoff dienen.

Es ist noch unklar, in welchem Verhältnis die Industrie durch direkte Elektrifizierung oder durch Wasserstoff dekarbonisiert wird. Es ist auch unklar, wie viel Wasserstoff bis 2040 in Österreich produziert werden kann und wie viel importiert werden muss. Klar ist jedoch, dass prinzipiell große Mengen an Wasserstoff importiert werden müssen, wenn die Industrie tatsächlich in einen wasserstoffbasierten Dekarbonisierungspfad investiert.

Der europäische Kontext

Österreich ist ein kleiner Binnenstaat inmitten der gut etablierten und stark regulierten EU-Binnenmärkte für Strom und Gas. Österreich verfügt über Stromverbindungsleitungen mit allen wichtigen Nachbarländern. Allein mit Deutschland verfügt Österreich über eine Verbindungskapazität von ca. 11 GW, was mehr ist als Österreichs Spitzenstrombedarf von ca. 10 GW. Das heißt, theoretisch könnte Österreich 100% seines Strombedarfs aus Deutschland importieren. Natürlich ist dies nur theoretisch, da der Markt mit einer komplexen Struktur von zeitabhängigen Übertragungsengpässen konfrontiert ist, die Erzeugung in Deutschland nicht zu jeder Zeit ausreichen würde und alle Länder ihr Potenzial an erneuerbaren Energien ausbauen müssen, um die Klimakrise zu bewältigen. Sie zeigt aber auch, wie engmaschig und voneinander abhängig das Stromsystem in Europa ist und dass erhebliche Veränderungen in den Verbrauchs- oder Produktionsmustern Auswirkungen auf die Nachbarländer haben werden. Sie zeigt aber auch, dass durch eine Optimierung des gesamten europäischen Binnenmarktes enorme Synergien erzielt werden können.

Das Gassystem ist noch stärker “europäisiert”: Die Handelsströme, die über das Ferngasnetz durch Österreich fließen, betragen das 6-7fache des österreichischen Inlandsverbrauchs von ca. 8 Mrd. m3 pro Jahr. Deutlich wird auch, dass die Importabhängigkeit von Gas bei über 90% liegt und nur durch die Substitution von Erdgas an sich besser diversifiziert bzw. reduziert werden kann.

Die Fragen, die sich aus dieser Situation ergeben, sind:

  • Inwieweit ist es sinnvoll, nicht eine 100%ige Autonomie anzustreben, sondern die Synergien des EU-Binnenmarktes zu nutzen?
  • Kann sich Österreich auch in Krisenzeiten auf den EU-Binnenmarkt verlassen, insbesondere im Hinblick auf den Ukraine-Krieg und die laufenden Bemühungen um den Ausstieg aus dem russischen Gas?
  • Welche Auswirkungen hat der deutsche Kohle- und Atomausstieg, und wird der Ausstiegszeitplan durch die aktuelle Krise beeinträchtigt?
  • Welche Auswirkungen haben die französischen Pläne zum Bau von 14 neuen Kernkraftwerken?

Die Diskussion wird wahrscheinlich für Strom und Gas unterschiedlich ausfallen, was sich auf die oben erwähnten Einschätzungen auswirken wird, ob die Industrie bei künftigen Investitionsentscheidungen mehr grünen Wasserstoff oder mehr direkte Elektrifizierung einsetzen wird.

Die größere Dimension über Europa hinaus

Im September 2021 organisierte das österreichische Chapter des Club of Rome bereits eine Konferenz mit der Vision, eng mit Afrika bei der Energiewende zusammenzuarbeiten. Das Potenzial der Solarenergie in der MENA-Region ist enorm und wurde in der jüngsten “REPowerEU”-Strategie der Europäischen Kommission anerkannt. Ein großes Potenzial an erneuerbaren Energien für die Produktion von grünem Wasserstoff auf der Grundlage von Photovoltaik wird auch in der Ukraine und, basierend auf Offshore-Windkraft, in der Nordsee gesehen.  Nicht nur die EU, sondern auch die nationalen Wasserstoffstrategien Deutschlands und Österreichs legen großen Wert auf internationale Partnerschaften, um Infrastruktur, Normen und Märkte für klimaneutralen Wasserstoff zu entwickeln.

Ohne in Isolationismus zu verfallen, kann die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarregionen eine Chance sein, das Engagement und die Dynamik zur Erfüllung des Pariser Abkommens zu erhöhen. Mit grünem Wasserstoff hat Europa die Chance, die derzeitige Importabhängigkeit von Russland und den OPEC-Ländern deutlich zu verändern und sich auf viele Länder zu verlagern, die keine fossilen Reserven, aber ein großes Potenzial an erneuerbaren Energien haben. In dieser Vision können die gemeinsame Nutzung grüner Technologien und die Entwicklung gemeinsamer Märkte für Strom und grünen Wasserstoff dazu beitragen, eine Win-Win-Situation für Europa und seine Nachbarländer zu schaffen.